Interview

«Es braucht sehr viel Mut und Selbstvertrauen, den Nikab zu tragen»

Wie kann man nur so herumlaufen? Mit dieser Frage sieht sich eine vollverhüllte Schweizer Konvertitin täglich konfrontiert. Weder fühlt sie sich von ihrem Mann unter Druck gesetzt, noch will sie von Feministinnen «befreit» werden.

Simon Hehli
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Wer in der Schweiz Nikab trägt, muss mit Anfeindungen rechnen.

Wer in der Schweiz Nikab trägt, muss mit Anfeindungen rechnen.

Michael Buholzer / Reuters

Gegen 200 000 muslimische Frauen leben in der Schweiz, aber nur ein paar Dutzend von ihnen gehen vollverschleiert aus dem Haus. Diese Nikabträgerinnen stehen im Zentrum der Debatte um das Verhüllungsverbot, über das die Schweiz am 7. März abstimmt. Selber zu Wort kommen diese Angehörigen einer raren Spezies kaum. Die einst prominenteste und umstrittenste Nikabträgerin des Landes, Nora Illi, ist 2020 erst 35-jährig gestorben. Die meisten verhüllten Frauen scheuen den öffentlichen Diskurs.

Eine Ausnahme ist Meryem Lüthi*. Die Konvertitin ist verheiratet mit einem Muslim, mehrfache Mutter, zwischen 30 und 40 Jahre alt und lebt in der Deutschschweiz. Am Telefon gibt sie beredt Auskunft über ihre Motive und ihre Erlebnisse. Auf ein Videogespräch mit einem Mann wollte sie sich – trotz Nikab – nicht einlassen.

Frau Lüthi, Sie sind eine wandelnde Provokation.

Ah ja? Ich wüsste nicht, warum.

Der Nikab, den Sie tragen, ist ein Symbol des politischen Islam. Damit stossen Sie in einer freiheitlichen Gesellschaft viele Menschen vor den Kopf.

Was mache ich denn Falsches? Mein Ziel ist nicht die Provokation. Der Nikab hat nur mit mir zu tun, nichts mit Politik. Jede Lebensform ist heute normal: Man kann Hip-Hopperin sein, Punk, transsexuell, was auch immer. Aber ich als Nikabträgerin störe offenbar. Das ist die Folge einer medialen Aufbauschung.

Punks und alle anderen zeigen ihr Gesicht, das ist der entscheidende Unterschied. Können Sie nicht nachvollziehen, dass Menschen irritiert sind, wenn sie ihr Gegenüber nicht aufgrund der Mimik einschätzen können?

Doch, ich verspürte früher selber ja auch ein Befremden, wenn ich einer Frau im Nikab begegnete. Aber wir führen dieses Gespräch jetzt per Telefon, Sie sehen mich nicht – können wir also nicht miteinander sprechen? Wir hören aus der Stimmlage unserer Gesprächspartner heraus, ob jemand gut gelaunt oder hässig ist. Und auch über die Augen ist nonverbale Kommunikation möglich. Das merken ja jetzt alle, da uns der Staat zwingt, mit Masken rumzulaufen.

Laut Religionsforschern stammt eine typische Nikab-Trägerin in Europa aus einer kaum religiösen Familie, entdeckt den Glauben dann während der Adoleszenz und nutzt die Verschleierung als Ausdruck der neu gewonnenen Religiosität. In anderen Bereichen ist die Glaubenspraxis allerdings nicht so stark ausgeprägt. Erkennen Sie sich wieder?

Nicht wirklich. Ich stamme zwar aus einer nichtmuslimischen Familie und habe später den Glauben für mich entdeckt. Aber der Rest trifft nicht zu. Würde ich etwa das Gebet vernachlässigen oder das Fastengebot im Ramadan nicht einhalten, wäre das viel gravierender, als wenn ich den Nikab ablegen würde. Der Islam ist die Basis meines Lebens. Er ist wie eine Bedienungsanleitung und hat Auswirkungen auf jeden einzelnen Bereich.

Vom Kopftuch bis zum Ganzkörperschleier

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Aus welchen Gründen tragen Sie den Nikab?

Es ist für mich einfach eine gottesdienstliche Handlung, ein Weg, um das Wohlgefallen meines Schöpfers Allah zu erlangen. Ich bin seit 15 Jahren praktizierende Muslima. Den Nikab trage ich nun seit dreieinhalb Jahren. Vorher habe ich mich mit dem Hijab bedeckt, also dem Kopftuch.

Und wieso hat Ihnen der Hijab als Ausdruck Ihrer Religiosität nicht mehr gereicht?

Es geht mir vor allem um eine klare Abgrenzung zum anderen Geschlecht. Ich habe gemerkt, dass der Hijab ein zu wenig starkes Signal war und Männer trotzdem einen zu lockeren Umgang mit mir pflegten.

Warum sollte das ein Problem sein?

Der Islam sieht keinen lockeren kumpelhaften Umgang der Geschlechter vor. Wir sollen solche Kontakte beschränken auf den Gatten und die Männer, die mit uns verwandt sind. Zu den anderen Männern sollen wir einen distanzierten Umgang haben. Der Koran sagt deshalb auch klar, dass sich die Frauen bedecken sollen.

Dahinter steckt doch die Vorstellung, dass der Mann vor der Verführungskraft der Frau geschützt werden muss. Eine Vorstellung, die patriarchal und letztlich frauenfeindlich ist.

Nein, das sehe ich ganz anders. Es liegt einfach in der Natur des Mannes, dass er Frauen schön findet. Nicht umsonst sieht man in der Werbung immer halbnackte Frauen. Wenn aber Männer – oder auch Frauen – ihren Trieben nachgehen und Affären haben, kommen die Frauen nicht zu ihrem Recht.

Inwiefern?

Laut dem Koran haben verheiratete Frauen ein Recht darauf, versorgt zu werden, einen anständigen Lebensunterhalt zu haben. Das will der Islam schützen, er will gesunde Familien. Und sowieso: Es ist gewiss nicht frauenverachtend, wenn ich mich bedecke, im Gegenteil. Ich will respektiert werden für meine Persönlichkeit, für meinen Intellekt. Ich will nicht reduziert werden auf meinen Körper, wie das Frauen in unserer Gesellschaft allzu oft passiert.

Was passiert, wenn ein fremder Mann Sie anspricht?

Das ist kein Problem, dank dem Nikab. Ich kann mich sachlich und freundlich mit Männern unterhalten, die ich nicht kenne. Aber ich will nicht, dass ein Mann mein Gesicht sieht. Ich will nicht, dass er denkt: Oh, das ist jetzt aber noch eine Hübsche, eine, die viel lächelt. Ich möchte, dass meine Schönheit meinem Mann vorbehalten bleibt.

Hat er Druck auf Sie ausgeübt? Viele Menschen gehen davon aus, dass es der Vater, der Bruder oder der Ehemann ist, der die Frau zwingt, einen Nikab zu tragen.

Natürlich nicht. Für meinen Mann ist es okay, wenn ich den Nikab trage, er fände es aber auch okay, wenn ich ihn nicht tragen würde. Es ist meine Entscheidung. Das Phänomen, dass eine Frau in den Nikab gezwungen wird, existiert in Europa praktisch nicht. Häufig ist genau das Gegenteil der Fall: Es gibt muslimische Frauen, die gerne den Nikab tragen würden, dies aber nicht tun, weil der Vater oder der Ehemann dagegen ist. Die Männer haben Angst, dass sie selber und ihre Tochter oder Frau Nachteile erleiden. Ich kenne solche Fälle. Es braucht sehr viel Mut und Selbstvertrauen, den Nikab zu tragen.

Eine beliebte Vorstellung von Nikab-Gegnern – nicht nur, aber gerade in feministischen Kreisen – ist aber, dass Frauen wie Sie befreit werden müssen.

(Lacht.) Ich habe es noch nie erlebt, dass irgendjemand zu mir gekommen ist und gesagt hat: «Kann ich Ihnen helfen? Sind Sie unterdrückt? Wissen Sie, wie sind in der Schweiz, hier ist es nicht erlaubt, jemanden in den Nikab zu zwingen. Wir haben die Polizei und Frauenhäuser, gehen Sie doch dahin.» Nein, das mit dem Befreien ist nur vorgeschoben.

Was bedeutet Freiheit für Sie?

Ich bin ein extrem freiheitsliebender Mensch. Ich definiere meine Freiheit offenbar einfach anders als viele Menschen in der Schweiz. Mein Begriff von Freiheit ist, dass ich mich kleiden darf, wie ich will. Wer mir diese Freiheit nehmen will, steckt mich in ein Gefängnis. Die Leute müssen nicht verstehen, warum ich das mache. Aber ich wünsche mir, dass sie es respektieren.

Sie sprechen explizit von der Situation der Musliminnen im europäischen Kontext. Also wollen Sie nicht bestreiten, dass in Ländern wie Afghanistan oder Iran Zwang auf die Frauen bezüglich Kleidung ausgeübt wird?

Bei uns ist es nicht die Norm, religiöse Kleidung zu tragen. Wenn die Tochter einer Schweizer Familie den Nikab tragen will, sagen die Eltern: Mach das nicht, denk an die Reaktionen der Leute und die Schwierigkeiten, die du bekommst. Ich stelle mir vor, dass es in vielen Kulturen umgekehrt ist und das Kopftuch eben die Norm ist, von der man nicht abweicht. Es gibt sicher Frauen in Iran, die das Kopftuch nicht aus Überzeugung tragen, sondern weil es Gesetz ist. Und Frauen in Afghanistan, für die dasselbe mit der Burka gilt – oder auch Männer, die ihren Bart nicht stutzen dürfen. Das finde ich problematisch. Denn einen religiösen Wert haben solche Praktiken nur, wenn man sie freiwillig macht.

Wie gehen Ihre Eltern damit um, dass Sie so stark von der hiesigen Kleidungsnorm abweichen?

Es war für meine Eltern gewiss nicht einfach, sie wollen ja nur das Beste für mich. Sie hätten es lieber gehabt, wenn ich in der Öffentlichkeit nicht so auffallen würde. Wir haben es nun schon lange nicht mehr angesprochen, aber ich glaube, sie respektieren meinen Wunsch. Wir sind häufig zusammen draussen unterwegs.

Wie oft gehen Sie aus dem Haus?

Eine lustige Frage. Ich lebe ganz normal, ich gehe mit meinen Kindern auf den Spielplatz, ich gehe einkaufen, treffe Freundinnen. Ich bin sehr gerne in der Natur und mache Ausflüge.

Und was erleben Sie in solchen Situationen?

Zu meinem Alltag gehört, dass ich Beschimpfungen und Anfeindungen höre. Auf einem Spielplatz passiert es selten, dafür fast immer, wenn ich auf der Strasse unterwegs oder in einem Laden bin. Was ich gar nicht mag, ist, wenn hinter meinen Rücken getuschelt wird. Wenn eine Person ein Problem mit mir hat, soll sie mich ansprechen.

Was für Beschimpfungen hören Sie?

Vieles davon ist nicht druckreif. Ein Klassiker ist: «Geh zurück dahin, wo du herkommst!» Oder: «Pass dich gefälligst an!» Oder: «Es ist noch nicht Fasnacht!» Wenn ich dann erwidere, dass ich Schweizerin und hier aufgewachsen bin, heisst es oft: «Das sind sowieso die Schlimmsten!» Es kam auch schon vor, dass mir Leute den Nikab runterziehen wollten.

Was löst das in Ihnen aus?

Natürlich lassen mich solche Anfeindungen nicht kalt. Ich habe von meinen Eltern gelernt, dass der gegenseitige Respekt ein hohes Gut ist. Menschen aufgrund ihrer Äusserlichkeiten zu beschimpfen, das ist nicht richtig. Ich will mich aber nicht zu sehr damit beschäftigen, vieles blende ich aus. Ich denke jeweils, das sind offenbar gestresste, frustrierte Menschen, die irgendein Ventil brauchen – und ich bin dann halt ihr Opfer.

Wenn Sie das Gespräch suchen, wie reagieren dann die Leute, die Sie angepöbelt haben?

Es gibt manchmal richtig gute Diskussionen. Es haben sich auch schon Leute entschuldigt für ihr Verhalten. Aber es gibt natürlich Leute, die so gefangen sind in ihren Vorurteilen, dass alles nichts bringt. Wenn ich mit meinen Kindern unterwegs bin, ist es mir besonders wichtig, mich zu wehren. Ich will nicht, dass sie in dem Gefühl aufwachsen, es sei okay, dass ich auf der Strasse beschimpft werde.

Hatten Sie nie die Befürchtung, dass der Nikab für Ihre Kinder eine Belastung ist, dass sie gehänselt werden in der Schule?

Doch, deshalb habe ich den Nikab anfänglich in gewissen Situationen abgelegt, etwa, wenn ich die Kinder von der Schule oder vom Sportverein abgeholt habe. Sie haben dann gesagt, sie hätten kein Problem, wenn ich den Nikab trage, sie fänden es sogar komisch, wenn ich es nicht täte.

Sie haben auch Töchter …

… uh, ich weiss schon, was jetzt kommt!

Würden Sie sich wünschen, dass sie später den Nikab oder zumindest ein Kopftuch tragen?

Alle Eltern hätten es gerne, dass ihre Kinder ihre Lebensphilosophie verinnerlichen – etwa Veganer. So ist es natürlich auch bei mir. Ich wünsche mir, dass meine Kinder den Islam praktizieren. Und dazu gehört bei den Mädchen, dass sie ab einem gewissen Alter das Kopftuch tragen. Natürlich freiwillig. Denn wie gesagt: Jede Handlung, die man nicht aus Überzeugung macht, ist leer und hohl. Zwang würde ein Kind sowieso eher wegbringen vom Glauben als näher hinzu.

Würden Sie es akzeptieren, wenn sich ein Kind für den säkularen Weg entscheidet?

Das wäre eine ganz schwierige Herausforderung.

Nikabträgerinnen stehen unter dem Verdacht, religiöse Eiferinnen zu sein und mit dem Salafismus oder gar terroristischen Organisationen wie al-Kaida zu sympathisieren.

Ich lehne Organisationen wie al-Kaida oder den IS ab, ihr radikales Gedankengut hat keine Grundlage im Islam. Und natürlich verurteile ich Terrorattacken, wie das jeder normale, vernünftig denkende Mensch tut. Ich habe auch noch nie gehört, dass eine Frau im Nikab einen Anschlag oder einen Bankraub verübt hätte. Deshalb ist das Sicherheitsargument der Verfechter der Burka-Initiative absurd.

Gibt es auch Muslime, die irritiert auf Ihre Kleidung reagieren? Schliesslich lehnen auch viele Ihrer Glaubensgenossen die Vollverhüllung ab – und haben Angst vor einem Imageschaden.

Ich habe in letzter Zeit innerhalb der Glaubensgemeinschaft keine negativen Reaktionen erhalten. Viele praktizierende Musliminnen tragen einfach das Kopftuch, und das ist gut so. Die Entscheidung zum Nikab ist keine einfache.

Haben Sie Kontakt mit anderen Vollverhüllten in der Schweiz?

Ich kenne nur zwei Frauen, die den Nikab dauerhaft tragen, aber wir sind nicht eng befreundet.

Wenn Sie Behördenkontakt haben, etwa, weil Sie eine neue ID brauchen: Haben Sie dann Mühe, Ihr Gesicht zu zeigen?

Nein, keine Nikabträgerin würde sich weigern, das zu tun. Wenn ich eine Flugreise mache und den Pass vorweisen muss, gehe ich zu einem Schalter, an dem eine Frau sitzt, und zeige ihr mein Gesicht. Und wenn ich beim Autofahren in eine Kontrolle komme, frage ich, ob eine Polizistin da ist, der gegenüber ich mich ausweisen kann. Das war noch nie ein Problem. Deshalb braucht es eigentlich auch den Gegenvorschlag des Bundesrates nicht.

Und was ist, wenn auf Behördenseite nur Männer anwesend sind?

Dann würde ich halt den Nikab schnell abziehen, deswegen geht die Welt nicht unter.

Am 7. März kommt es zur Abstimmung über das Verhüllungsverbot …

… diese Initiative ist eine Schande für unsere Demokratie. Und was das alles kostet, nur damit ich und etwa 30 andere Frauen den Nikab nicht mehr tragen dürfen! Millionen fliessen jetzt in den Abstimmungskampf, und auch eine allfällige Umsetzung wird teuer. Haben wir denn keine anderen Probleme?

Was würde ein Ja zur Initiative für Sie bedeuten?

Es macht mir Angst, weil ich davon ausgehe, dass ich nach der Abstimmung noch mehr negative Reaktionen erleben werde. Wir überlegen uns schon lange, was die Konsequenzen für unseren Alltag wären. Ich bin nicht bereit, den Nikab abzuziehen. Aber ich bin auch eine Bünzli-Schweizerin und gewohnt, mich an unsere Gesetze zu halten. Ich könnte also nicht mehr aus dem Haus gehen, das ist unvorstellbar für eine Familienmutter. Wenn es wirklich so kommt, bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als auszuwandern.

* Name von der Redaktion geändert

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