Woher kommt der jihadistische Terrorismus? Wo ist der Platz des Islam in Europa? Eine französische Debatte, die ganz Europa angeht

Seit Jahren liefern sich Olivier Roy und Gilles Kepel eine Art Glaubenskrieg über die Ursachen des islamistischen Terrors. Daraus lassen sich, nüchtern betrachtet, Lehren für den Kampf gegen den Terrorismus ziehen.

Andreas Ernst
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Französische Polizisten Ende Oktober 2020 bei der Kathedrale Sacré-Cœur in Paris, nachdem ein jihadistischer Anschlag in Nizza drei Menschen das Leben gekostet hatte.

Französische Polizisten Ende Oktober 2020 bei der Kathedrale Sacré-Cœur in Paris, nachdem ein jihadistischer Anschlag in Nizza drei Menschen das Leben gekostet hatte.

Yoan Valat / EPA

Was treibt junge Männer – und selten junge Frauen – in den jihadistischen Terror? Was fasziniert diese jungen Europäer an der Gewalt im Namen des Islam? Darüber gibt es in Frankreich seit vielen Jahren eine Debatte, die sich nach jedem Anschlag neu zuspitzt und in Variationen in ganz Europa geführt wird.

Die Fragen nach den Ursachen des Terrors ist ja keineswegs nur akademisch. Denn von den Antworten hängen auch die polizeilichen und politischen Massnahmen zu seiner Bekämpfung ab. Dass die französische Diskussion gern zum Duell, manchmal auch als «guerre secrète» stilisiert wird, hängt wohl mit der gallischen Debattierkultur zusammen.

Ein Zweikampf von Islamexperten

Die Kontrahenten sind Gilles Kepel auf der einen und Olivier Roy auf der andern Seite. Es sind zwei Schwergewichte aus den Disziplinen der Soziologie und der Politikwissenschaft, die ein Leben lang muslimische Gesellschaften und Gemeinschaften erforscht haben.

Der 65-jährige Gilles Kepel ist Arabist und Politikwissenschafter und einer der bekanntesten Islamexperten Europas. Sein Konzept des Jihadismus erläutert er u. a. in: «Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa», Kunstmann, München, 2016.

Der 65-jährige Gilles Kepel ist Arabist und Politikwissenschafter und einer der bekanntesten Islamexperten Europas. Sein Konzept des Jihadismus erläutert er u. a. in: «Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa», Kunstmann, München, 2016.

Christoph Ruckstuhl / NZZ

Ihre Positionen können auf je eine Formel zugespitzt werden: Der Terror ist eine Folge der Radikalisierung des Islam, sagt Kepel. Roy dagegen meint: Der Terror ist Ausdruck einer Islamisierung von gewaltbereitem Radikalismus.

Kepel beobachtet in europäischen Gesellschaften die Entstehung von Enklaven, in denen salafistische (d. h. fundamentalistische) Auslegungen des Islam von radikalen Predigern verbreitet werden. Es entstehen Parallelgesellschaften, die von den staatlichen Institutionen immer weniger kontrolliert werden. Darin entwickelt sich ein Klima der Ablehnung und auch der Feindschaft gegenüber der säkularen Gesellschaft. Hier rekrutieren Terrororganisationen junge Muslime, wobei die Gefängnisse die eigentlichen Brutstätten für Jihadisten sind.

Das ist die jüngste Phase einer Entwicklung, deren Anfänge Kepel im afghanischen Jihad gegen die Sowjetunion in den 1980er Jahren sieht. Auf dieses Modell des Jihad «vor Ort» (gedacht als Befreiung einer muslimischen Gesellschaft) folgte der «ferne Jihad». Sein spektakulärster Schlag war der Angriff am 11. September 2001 auf die USA durch hierarchisch organisierte Einheiten. In der dritten Phase, die Europa derzeit erlebt, nährt sich der Jihad aus den Gesellschaften selber. Er gleicht einem Rhizom, das im Untergrund wächst und gewaltbereite Extremisten hervortreibt, die mit geringem logistischem Aufwand unvorhersehbar zuschlagen.

Eine zentrale Rolle, so Kepel, spielt dabei die salafistische Doktrin. Man könnte auch sagen: Sie ist das Skript hinter dieser Entwicklung. Die Strenge des Salafismus und seine Feindschaft gegenüber andern Schulen des Islam sowie gegenüber Anders- oder Nichtgläubigen begründen ein Weltbild, das früher oder später in eine religiös motivierte Konfrontation führen muss. Kepel plädiert dafür, die Texte des Salafismus ernst zu nehmen. Sie würden von instabilen oder verführten Individuen als Aufforderung zur Gewalt verstanden.

Ein Gläubiger beim Freitagsgebet in der Grossen Moschee von Paris im Oktober 2020.

Ein Gläubiger beim Freitagsgebet in der Grossen Moschee von Paris im Oktober 2020.

Kiran Ridley / Getty

Kepels Diagnose von den islamistischen Enklaven in westlichen Gesellschaften, in denen salafistische Prediger und Terrornetzwerke Jugendliche rekrutieren, wird von vielen Terrorexperten geteilt und ist heute die vorherrschende Sichtweise in der Öffentlichkeit. Hier tummeln sich auch viele «Islamkritiker», die von den Muslimen eine Reformation ihres Glaubens fordern. Kepels Perspektive inspirierte Gesetzesprojekte in Frankreich oder Österreich, mit denen der «islamistische Separatismus» (Macron) oder die Gefahr des «politischen Islam» (Kurz) bekämpft werden sollen.

Via Ägypten oder Afghanistan zur Erforschung des Islam?

Dass Kepel und Roy zu ganz unterschiedlichen Erklärungen des Jihadismus kommen, hängt vielleicht auch damit zusammen, dass sie sich aus ganz anderen Richtungen der muslimischen Welt näherten.

Kepel nahm seine Studien in den 1970er Jahren in Damaskus und in Kairo auf, den wichtigsten Zentren islamischer Gelehrsamkeit, in denen das Studium und die Auslegung der heiligen Schriften betrieben werden. Dies erklärt vielleicht sein Insistieren auf den Texten der Salafisten, die er für handlungsleitend hält: Zusammen mit der Agitation charismatischer Prediger reichen sie aus seiner Sicht aus, um die Gewalttaten sozial marginalisierter Jugendlicher zu erklären.

Olivier Roy dagegen kam über Afghanistan zum Islam. Er lernte dabei eine andere islamische Kultur kennen als Kepel in Kairo und in Damaskus. Nicht Gelehrte, die sich über den Koran beugten, waren seine Gesprächspartner, sondern religiös wenig gebildete Jihadisten, die einen brutalen Gebirgskrieg gegen die sowjetischen Besatzer fochten.

Roy erinnert sich an eine Begegnung 1985 mit einer Kolonne von Kämpfern. «Hau ab, Kafir (Ungläubiger), woher du gekommen bist!», habe ihm dabei einer auf Französisch zugerufen. Es war ein Konvertit. Seither ist Roy überzeugt: Die Radikalen kommen viel öfter aus der Peripherie als aus dem Herzen der islamischen Gesellschaften.

Afghanische Mujahedin im Mai 1980 während der Rast in den Bergen der Provinz Kunar. Sie leisteten den sowjetischen Truppen, die zum Jahreswechsel 1979/1980 das Land besetzt hatten, erbitterten Widerstand.

Afghanische Mujahedin im Mai 1980 während der Rast in den Bergen der Provinz Kunar. Sie leisteten den sowjetischen Truppen, die zum Jahreswechsel 1979/1980 das Land besetzt hatten, erbitterten Widerstand.

AP

Wie gesagt: Bei allen Differenzen, auf die gleich einzugehen ist, gibt es auch wichtige Übereinstimmungen zwischen Roy und Kepler. Für beide ist das Gefängnis ein Ort, an dem Radikalität und Religion aufeinandertreffen und der bei jungen Muslimen die Bereitschaft zu religiös aufgeladener Gewalt erzeugt und wachsen lässt.

Auch das Internet und die sozialen Netzwerke betrachten beide als Instrumente der Mobilisierung, der Radikalisierung und der Konversion. Aber hier beginnen dann auch schon die Differenzen zwischen den beiden Erklärungsversuchen. Bei Kepel entfaltet sich im Internet das verführerische audiovisuelle Charisma von Predigern, die ihre Botschaften verbreiten. Denn ihr Wort ist mächtig und einflussreich.

Eine Islam ohne Ort und Gesellschaft

Der 71-jährige Politikwissenschafter Olivier Roy studierte Iranistik und Philosophie, bevor er sich Fragen des globalen Islam und der Säkularisierung zuwandte. Sein Ansatz zur Erklärung des europäischen Jihad findet sich u. a. in: «Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod», Siedler, München, 2017.

Der 71-jährige Politikwissenschafter Olivier Roy studierte Iranistik und Philosophie, bevor er sich Fragen des globalen Islam und der Säkularisierung zuwandte. Sein Ansatz zur Erklärung des europäischen Jihad findet sich u. a. in: «Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod», Siedler, München, 2017.

PD

Roy bestreitet das nicht, aber für ihn ist etwas anderes entscheidend: Die im Internet verbreitete religiöse Propaganda ist losgelöst von einem konkreten gesellschaftlichen Zusammenhang, sie existiert ohne Kontext, ohne Ortsbezug. Was hier propagiert wird, ist reine Ideologie, die nicht zurückgebunden ist an eine alltägliche, gesellschaftliche Glaubenspraxis. Es fehlt diesem Islam daher jeder Pragmatismus.

Genau diese quasi schwebende Botschaft ist attraktiv für die gewaltbereiten jungen Männer. Denn sie sind religiös wenig «vorbelastet», sind nicht Teil eines traditionell religiösen Milieus, das sie sozial kontrollieren würde.

Wer sind die jungen Männer, die sich in die Luft sprengen oder nach der Bluttat im Kugelhagel der Polizei sterben? Roy hat ihre Biografien untersucht. Es ist dieser soziologische Zugang, der seine Analyse empirisch gehaltvoll macht – und dem Chor feuilletonistischer «Islamkritiker» haushoch überlegen.

Es sind, so Roy, junge Männer aus der zweiten Generation muslimischer Einwanderer oder einheimische Konvertiten. Sie verfügen häufig über ein Vorstrafenregister (Drogen, Diebstahl), aber kaum je über eine systematische religiöse Erziehung. Die Konversion oder die religiöse Wiedererweckung (die Roy mit dem «born again»-Erlebnis von Evangelikalen vergleicht) liegt zur Zeit der Tat meist nur kurz zurück.

Die Radikalisierung geschieht vielfach im kleinen Kreis von Vertrauten, oft unter Cousins oder Brüdern. Man trifft sich dafür eher im Kampfsportklub als in der Moschee. Die neue Religiosität wird provokativ zur Schau gestellt und verschärft den Generationenkonflikt in der Familie. Roy weist zwar auf das oft schwierige soziale Umfeld der jungen Radikalen hin. Doch der Terrorismus ist nicht Ausfluss solcher Missstände und auch nicht eines wirklich fundamentalistischen Glaubens. Entscheidend ist vielmehr die religiöse Aufladung einer existenziellen Wut.

Dagegen ist für Kepel der bewaffnete Jihadismus der Endpunkt einer langen historischen Auseinandersetzung zwischen dem französischen Staat und dem Islam. Stationen dieser Auseinandersetzung sind der Algerienkrieg (1954–1962), die Revolten in den Banlieues (2005) und der Kopftuchstreit der 2000er Jahre. Roy dagegen lehnt die mit dieser Erklärung verbundene Vorstellung einer Kontinuität als «Essenzialisierung» des Islam ab.

Ein niedergebranntes Lagerhaus in Aubervilliers bei Paris im November 2005. Ob diese Ausschreitungen als Vorläufer des jihadistischen Terrors zu betrachten sind, ist zwischen Kepel und Roy sehr umstritten.

Ein niedergebranntes Lagerhaus in Aubervilliers bei Paris im November 2005. Ob diese Ausschreitungen als Vorläufer des jihadistischen Terrors zu betrachten sind, ist zwischen Kepel und Roy sehr umstritten.

Meigneux / EPA

Die Jihadisten ziehen sich wohl das Mäntelchen des Salafisten an, aber was sie tun, widerspricht seinen Grundsätzen: Es ist zwar ein Märtyrer, wer im Kampf für den Glauben stirbt. Doch der Tod, den die Jihadisten im Kugelhagel der Polizei geradezu suchen, ist eine Sünde. Dem wahren Salafisten bestimmt Gott allein den Ort und die Zeit seines Todes. Die Jihadisten dagegen, so Roy, nehmen den Tod nicht nur in Kauf, er ist ein zentrales Motiv ihres Handeln. Mit ihrem Todestrieb gleichen sie den Amokläufern in amerikanischen Schulen.

Auch ihre Selbstinszenierung ist für Roy ein Indiz dafür, dass diese Terroristen ihre Gewalttätigkeit nur oberflächlich «islamisieren». Ihre Videos, die sie vor oder während ihrer Tat drehen, folgen der Ästhetik von machistischen Videospielen oder von sadistischen Filmen.

Der Islam braucht seinen Platz in Europa

Zwar bestreitet Roy, dass von den sozialen Missständen in den Banlieues ein direkter Weg zum Terrorismus führe. Aber er benennt gesellschaftliche Voraussetzungen, welche die Instrumentalisierung der Religion durch psychisch labile junge Männer begünstigen. Dazu gehört für ihn an erster Stelle der militante Laizismus der französischen Republik, die alles Religiöse in den privaten Bereich verbannt. Im Umkehrschluss bedeutet das: Wer den islamistischen Terror bekämpfen will, muss dem Islam mehr Raum in der säkularen Gesellschaft geben.

Das ist nicht nur im laizistischen Frankreich eine Provokation. Roy argumentiert, dass Immigration, Säkularisierung und Globalisierung die Religion ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit entkleiden. Sie wird so reduziert auf einen ideologischen Kern und abgedrängt in Nischen ohne Pragmatismus und soziale Kontrolle. Religion gleicht dann strukturell immer mehr jenen faschistischen oder revolutionär-kommunistischen Angeboten, die junge Menschen zur «Propaganda der Tat» verführen.

Was die europäischen Einwanderungsgesellschaften brauchen, sagt Roy, sind islamische Institutionen, die für die muslimischen Mittelschichten attraktiv sind. Das beginnt bei den Predigern. Heute sind es oft schlecht bezahlte Imame, die aus den Ursprungsländern geholt werden und kaum die Landessprache sprechen. Gebraucht werden aber gut ausgebildete, einheimische Geistliche, welche die soziale Realität der Gläubigen kennen und teilen.

Sie sollten nicht in Industriearealen oder Hinterhöfen predigen, sondern in hellen, schönen Moscheen (das Minarettverbot in der Schweiz ist auch in diesem Zusammenhang ein Schandfleck für eine liberale Gesellschaft). Allerdings wird eine solche Integration des Islam Ländern wie Österreich, Deutschland oder der Schweiz leichterfallen als Frankreich, weil sie Religion und Staat nicht absolut voneinander trennen und im Fall Österreichs der Staat muslimische Gemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkennt.

Aber auch wenn der Islam seinen Platz in den europäischen Gesellschaften gefunden habe, warnt Roy, werde die jihadistische Gewalt nicht einfach verschwinden. Denn der Terror hat nur bedingt mit Religion zu tun.

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